Alben & Lieder

Kinderstube

1983, Text: Georg Kreisler

(Das kleine Mädchen spielt auf dem Fußboden, der Vater sitzt in einem bequemen Stuhl und liest die Bildzeitung.

Kind
Papi — war Jesus ein Jude?

Vater
(nachdem er überlegt hat): Halbjude. (Pause)

Kind
Papi - war Hitler ein Jude?

Vater
Unsinn! Hitler war gegen die Juden.

Kind
Jesus doch auch.

Vater Das ist etwas anderes. Hitler war ein böser Mensch, Jesus war gut.

Kind
Gut für die Juden?

Vater
Was heißt für die Juden? Für die Menschen.

Kind
Aber nicht für die Juden?

Vater
Nein, nicht für die Juden! Für die Menschen! (Pause)

Kind
Papi — warum liest denn du immer Zeitung?

Vater
Ich lese keine Zeitung, ich lese Bild.

Kind
Warum liest du immer Bild?

Vater
Weil's mir Spaß macht.

Kind
Was steht denn da drin?

Vater
Das verstehst du ja nicht. Also — zum Beispiel — da steht: Verteidigungsminister Wörner sagt, wir müssen auf einen Atomkrieg gefaßt sein. (Das Kind lacht.) Was ist denn daran lustig?

Kind
Du hast doch gesagt, daß es dir Spaß macht.

Vater
Das heißt ja nicht, daß es lustig ist. In der Bildzeitung stehen Morde — Unfälle — wenn jemand einen Unfall hat, macht ihm das natürlich keinen Spaß. Aber wenn man darüber liest — (er lacht hämisch, plötzlich wieder ernst) — das wirst du verstehen, wenn du erwachsen bist.

Kind
Wenn ich erwachsen bin, muß ich dann auch die Bildzeitung lesen?

Vater
Nein, das mußt du nicht. Du kannst die BZ lesen, die Morgenpost, die Welt — jede Springerzeitung, die du willst.
Kind
Stehen da überall Unfälle drin?

Vater
In jeder Zeitung steht dasselbe, weil Konkurrenz muß sein.

Kind
Bei uns in der Schule war auch ein Unfall. Ein Lehrer hat
seine Brieftasche verloren mit dreißig Mark.

Vater
Das ist kein Unfall. Das ist ein Unglück, aber kein Unfall.

Kind
Da war aber noch ein Unfall. Die Großmutter von der Hilde, die schon so lange krank war, die ist gestern gestorben.

Vater
Wenn sie schon alt und krank war, ist das auch kein Unfall. Das ist — na ja, das ist ein Grund, traurig zu sein, aber kein Unfall.

Kind
Was ist dann ein Unfall?

Vater
Das ist — also wenn zum Beispiel dieser Verteidigungsminister Wörner von einem Panzer überfahren wird und ist tot. Das ist kein Unglück, das ist kein Grund, traurig zu sein, das ist ein Unfall.

Kind
War Karl Marx ein Jude?

Vater
Wer?

Kind
Karl Marx.

Vater
Wo hast du denn den Namen her?

Kind
Aus dem Religionsunterricht.

Vater
Tatsächlich? Was hat denn der Herr Pfarrer über den Karl Marx gesagt?

Kind
Er hat gesagt, die Juden haben den Heiland ans Kreuz genagelt.

Vater
Das hat nichts mit Karl Marx zu tun. Da hast du wieder
nicht aufgepaßt.

Kind
Ich hab doch aufgepaßt!

Vater
Du hast nicht — macht nichts, ist vielleicht ganz gut, wenn du nicht immer aufpaßt. (Pause)

Kind
Papi — ist alles, was man in der Schule lernt, auch wirklich wahr?
/
Vater
N-nein — aber lernen mußt du's trotzdem.

Kind
Warum muß ich's denn lernen, wenn's nicht wahr ist?

Vater
Ich hab's auch lernen müssen. Und wenn du erwachsen bist, wirst du schon merken, was wahr war und was nicht.

Kind
Aber die Lehrer sind doch auch erwachsen. Warum erzählen sie dann Lügen?

Vater
Die Lehrer haben ihre Vorschriften.

Kind
Was sind Vorschriften?

Vater
Vorschriften? Das ist dasselbe wie Gesetze. Die muß man befolgen, sonst wird man eingesperrt.

Kind
Hach — das wäre schön, wenn alle Lehrer eingesperrt würden.

Vater
Sie werden eben nicht eingesperrt, weil sie den Gesetzen gehorchen.

Kind
Und Lügen erzählen.

Vater Ja, notfalls auch Lügen erzählen. Lügen sind eben das Resultat von Gesetzen — nein, Gesetze sind das Resultat von — — kurz und gut, Gesetze braucht man, damit Ordnung herrscht.

Kind
Hat Hitler auch Gesetze gemacht?

Vater
Na und ob! Die hat auch jeder befolgen müssen, sonst ist es ihm übel ergangen.

Kind
Hat Jesus auch Gesetze gemacht?

Vater
Ja, natürlich. Sehr gute Gesetze.

Kind
Aber jetzt ist er tot.

Vater
Aber nein, Kind, Jesus ist doch im Himmel und paßt auf, daß alle Menschen seine Gesetze befolgen.

Kind
Aber Hitler ist tot.

Vater
Der schon gar nicht.